Down and Out in Market Rasen

Market Rasen ist ein kleiner Landflecken in Lincolnshire. Ich fahre London – Edinburgh – London, mehr als 1400 km, meinen bisher härtesten Brevet.
Ich war dort schon am ersten Abend bei km 248. nun bin ich 1150 km gefahren, weite Teile Englands und Schottlands Südosten mit Wendepunkt in Edinburgh durchquert. Sonne, zuerst Hitze, schwere Schauer, ergiebigen Landregen, eine feuchtkalte und eine warmfrontmilde Nacht abgeritten. die Strassen dann teils unter Wasser. ich bin froh, Schutzbleche montiert zu haben, die neuen Regenüberschuhe erweisen sich allerdings schnell als flop, wenn sie klitschnass am Schuh kleben, werden sie gar eher zum Kühlschrank. die Fusshaut quillt weisslich…dass ich die Regenhose (3/4 wärmt die Knie) trotz Stauproblemen dabei habe, ist der Bringer.
Von Peter wusste ich schon, flach sind die englischen Landstriche eigentlich selten; nur zwischen km 75 auf der Höhe von Cambridge und Market Rasen tun sich norddeutsch anmutende Flachzonen auf, teils gar holländisch-friesisch, an breiten  Kanälen geht es, das Auge ermüdend, entlang.
Auf dem Hinweg treibt der Südwestwind, für Dienstag am Wendepunkt sind die Aussichten auf ein Drehen des Windes schlecht. Mein Plan ist, dann eine Gruppe zu finden. das gestaltet sich aber schon seit dem Start schwierig, zu unterschiedlich sind die Fahrstile, Stärken und Schwächen der Fahrer. Und: Randoneure sind Einzelgänger, wohl aus den eben geschilderten Gründen.

Das ist ein wesentlicher Unterschied zu RTFs oder Jedermannrennen mit immer wieder neuen Allianzen, aber wo werden auch schon Rennen über 116 Stunden am Stück ausgetragen…
einige Fahrer sehen das aber hier trotzdem so. Das Anfangstempo ist hoch, ich muss öfters raus aus den allzu wilden Gruppen, wenn man so ein Tempo dann nicht über die ganze Strecke  von 1400 km durchhalten kann, ist das Scheitern vorprogrammiert. Also Tempo raus, Körner sparen. Peter und ich sind eigentlich nie zusammen, wir treffen uns aber an den ersten Kontrollen. Es ist warm, ich geniesse die Fahrt, die wechselnden Landschaften, aber auch den Schwatz an der Kontrolle. Ich ahne, dass der Rückweg beschwerlich werden wird, frischer Wind von vorne, vielleicht meist alleine, Wetterumschwünge (Schauer angesagt), gönne mir das aber, da ich noch gut in der Zeit liege. ich werde auch nicht müde, das erste Nachtlager in Proklington ist auch nicht gerade einladend, ich muss sogar auf einen Schlaflatz warten, Peter liegt schon in der Mensa auf dem nackten Boden. Dazu sagt mein Rücken: nein. Ich will schon weiter, da erzählt mir Ralf vom ARA Berlin Brandenburg, es wären gerade viele Matratzen frei geworden. Also ab ins Altmänner Schnarchlager (im Starterkit waren tatsächlich Ohrstöpsel! das nenne ich perfekte Organisation). 2 Stunden reichen, bin schon vorm Wecken wach. Kurzes Frühstück und weiter. der Tag graut schon fast, es wird schön, aber nicht mehr so heiss. Gestern hatte ich schon nach 150 km alle bekannten Krampfe durch, ich hatte lange kein Wasser mehr, da es kaum Möglichkeiten zum Nachfüllen gab (es half dann eine Hobbygärtnerin, danke). Am 2.Tag, hinter der Kontrolle Barnard Castle, geht es zur Sache. In der Nachmittagshitze fast 20 km stetig bergauf, dem schönen Tal des River Tees folgend, bis auf 600 m, also nicht gerade steil, aber die Länge fordert Tribute. Belohnt werde ich mit der rasanten Abfahrt nach Anston. Nach einer Mütze Schlaf in Brampton erwische ich morgens in der Dämmerung eine lange Periode Starkregen, der mein Microfaser Equipment an seine Grenzen weist. Und was der Regen nicht schaft erledigt meine Transpiration….. Aber auch das geht vorbei. Derweil habe ich nördlich des Hadrianwalls bei Gretna die schottische Grenze passiert. Mein Sprachverständnis wird arg auf die Probe gestellt. Hinter der Kontrolle Moffat geht es noch einmal auf 400 m um dann dem River Tweed zu folgen (allein dafür hätte es gelohnt, hierherzufahren).Endlich in Edinburgh.
Enttäuschend, aber wohl nicht anders machbar. Der Firth of Forth ist gerade mal von der Hochebene vor Edinburgh zu ahnen, wir Randonneure landen in einem gesichtslosen Vorort. Das hatte mir vor 2 Jahren bei PBP besser gefallen, dort gab es in Brest auf dem Weg zur Kontrolle eine interessante Stadt- und Hafenrundfahrt mit dem Rad. Nevermind, ich muss wohl sowieso eine Great Britain-Reise planen, LEL kann nur Anregungen geben.
Also Essen fassen und weiter, nochmals 700 km. Es ist Dienstagnachmittag, ich bin um und bei 55 Stunden unterwegs. Kleinen Flüssen folgend fahre ich in die Nacht.  Aus den Flussniederungen steigt der Nebel auf. Schottland ist nicht dicht besiedelt, aber jetzt, über   Traquair nach Eskdalemuir wird es wirklich einsam.Vereinzelt irrlichtern andere Randonneure in dieser Suppe. Very scotish. Und die Namen klingen wie Scotish Highland Single Malt. Den gibt´s dann auch tatsächlich in Eskaldemuir, eine winzige Schule (überhaupt, die Public Schools, in denen unsere Supports untergebracht sind, lassen einen tiefen Einblick in die Abgründe des öffentlichen Schulsystems zu. Nichtsdestotrotz war Parkettfussboden beim Bau dieser Schulen wohl auch für die lower class wohlfeil. Wir ziehen die Radschuhe aus. Ich fühle mich noch recht frisch und mache nur ein kleines Nickerchen auf einem Sofa. Und ich weiss nicht genau warum, aber morgens in Brampton habe ich viel Zeit verloren, nur eine halbe Stunde trennt mich vom Kontrollschluss, in Barnard Castle bin ich einige Minuten drüber, die Volunteers sehen es gelassen und stempeln. Ich treffe an einer der seltenen Tanken auf Franzisko aus München, wir fahren einen ähnlichen Stil und mit Genuss bis nachmittags zusammen durch die fantastische Landschaft  North Yorkshires. Ich denke, so kann es weitergehen, aber ein blöder Zufall trennt uns dann doch wieder. Mein Zeitpolster bleibt fragil im Plus von einigen Minuten.

In Pocklington schlafe ich eineinhalb Stunden, die folgenden 65 km bis Market Rasen sollten ausgeruht ja wohl in 5 Stunden zu bewältigen sein, zumal alle nennenswerten Anstiege hinter mir liegen. Trügerische Sicherheit. Erst lotse ich einen Fahrer, dessen GPS offline gegangen ist und der in der Folge mir verloren geht, dann helfe ich einem Liegeradfahrer, seinen Pneu zu reanimieren, zugegebenermassen bin ich auch für einen kleinen Schwatz zu haben. Ein weiterer Blick in mein Streckenbuch versetzt mir einem gewaltigen Schreck, die Distanz beträgt nicht 65, sondern 85 kmbis zum nächsten Boxenstop, eine Stunde länger zu fahren, jetzt knurrt auch noch der Magen, mein Wasser ist alle, ich entere den Garten eines nahen Hauses und bin froh, dass kein Hund anschlägt, vor allem aber ist der Wasserschlauch nicht im Haus abgesperrt. Hastig getrunken, Flaschen gefüllt. Weiter. Wir haben die Humber Bridge passiert, die Strecke ist jetzt nahezu flach, der Wind bläst unangenehm von vorne, die höher steigende Sonne lässt einen schwülheissen Tag ahnen. Lange Anstiege und rasante Abfahrten haben mich bisher meist die Müdigkeit nicht spüren lassen. Die Mühen der Ebene machen jetzt aber schläfrig. Und ich bin jetzt sauer auf mich selber, weil ich so verbohrt war, Sonntagmorgen noch den Prolog vom Buckingham Palace zum Startort zu fahren. 30 km Anfahrt, 30 km Prolog, wobei schon nach 10 Minuten Fahrt das Feld total auseinandergerissen war – ich kam alleine an!). Nach zwei Sekundennickerchen auf dem Rad halte ich mich so für ein Risiko für alle Verkehrsteilnehmer. Immer noch 15 km to go. Egal wie spät es jetzt schon ist, ich muss in der nächsten Kontrolle länger schlafen, bisher, so rechne ich nach, erst rund 9 Stunden in gut 4 Tagen, allerdings einige längere Ruhepausen (Fotografieren, Gespräche oder einfach nur in die Gegend gucken). Insgesamt 19 Stunden habe ich noch, wenn ich just in time wieder in London Loughton aufschlagen will. Für 290 km – bei meinem bisherigen Schnitt sind das 14 Stunden reine Fahrtzeit, 2-3 Stunden in den verbleibenden 5 Kontrollen, 4 Stunden Schlaf sofort, 1-2 am Abend, es summiert also auf mindestens 21 Stunden, ein theoretischer Überschlag, die Erfahrung lehrt, es ist immer einiges mehr. Ich hielt und halte auch heute diese übermüdet angestellten Überlegungen nicht für Pessimismus, aber exakt kann man an so einem Punkt nichts mehr vorhersagen; rein kräftemässig fühle ich mich immer noch ziemlich gut.
In Market Rasen angekommen, melde ich mich ab aus LEL 2013.
„dropped out 11:38 “ steht später auf der website von LEL. Leider wissen meine Freunde, die mich teilweise mehrmals täglich tracken, natürlich nicht, warum. Nachmittags rufe ich dann meine Frau Moni an. Und ich habe das gute Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Jetzt, wo ich hier ein Fazit ziehe, und aufgrund der legeren Umgangsweise der Veranstalter, was die Schlusszeiten betrifft (entscheidend ist die Ankunft am Ziel), würde ich vielleicht doch versuchen weiterzukommen, schlafen, fahren, fahren, Pause, fahren, sehen ob meine Form bestehen bleibt, ich Zeit gutmachen kann.
So erfahre ich am nächsten Tag, dass sich sogar noch Grüppchen gegen den Wind gefunden haben.
Nutzlose nachträgliche Spekulation.
Entscheidend: Ich behalte auch so meine gute Laune, freue mich über die zahlreichen netten Erlebnisse, die vielen Bekanntschaften entlang der Strecke, die furiosen Landschaften, die beeindruckende Stille der Nächte.
In der Nähe der Kontrollstelle finde ich ein B&B; vor allem aber jetzt a pint of beer. Es werden dann zwei.

Am nächsten morgen mit dem Zug nach London.

Peter hat es mit seinem straiteren Zeitmanagement schon besser gemacht.
Nur so lässt sich so ein Brevet fahren. Letzte Sicherheit gibt das dennoch nicht. Auch ihm rann am Ende die Zeit davon, aber ich war gleich am Anfang zu grosszügig, habe aber viel gesehen und erlebt, einige gute Bilder. Den Gesamteindruck aber vergisst man sowieso sehr lange nicht, auch heute noch ist Paris-Brest-Paris 2011 auf verschiedenste Weise in mir eingraviert.
Allerdings – auch das nehme ich mit nach Hause – jede Fahrt wird anders sein – das ist die alleinige Sicherheit.

Die 18. Austragung von Paris – Brest – Paris ist im August 2015.