Warum fährt man 1200 Kilometer mit dem Rad? Mein Paris-Brest-Paris 2023

Unser Vereinsmitglied Lorenz Wolf-Doettinchem fuhr dieses Jahr beim Brevet Paris-Brest-Paris mit und berichtet hier von seiner Erfahrung.

Auf der Bruecke in Brest

Nach 928 Kilometern, nach 60 Stunden und 36 Minuten dachte ich zum ersten Mal ans Aufgeben, am Mittwochnachmittag um 17.36 Uhr in Fougeres, mitten in der Bretagne.

Brevet bedeutet Prüfung, Paris-Brest-Paris ist eine selbstgewählte Prüfung: 1200 Kilometer, 12.000 Höhenmeter, mit einem Zeitlimit, bei meiner Startzeit am Montagmorgen lag es bei 84 Stunden. Es ist eine Traditionsveranstaltung, die entlang der Strecke mit viel ehrenamtlichem Engagement und ständiger Aufmunterung alle vier Jahre zum Leben erwacht.

Es war in Rambouillet rasend schnell losgegangen, großes Peloton, Tempo über 32 km/h. Erst am ersten richtigen Hügel musste ich abreißen lassen. Trotzdem lief es weiter gut, mal allein, mal in kleinen Gruppen. In der ersten Nacht konnte ich nach dem Tagespensum von 390 Kilometern sogar ein paar Stunden schlafen.

Nach Brest hinunter stürzte ich mich im Duo mit Jelle aus Rotterdam hinunter. Es entstehen bei so einer Veranstaltung Partnerschaften auf Zeit, zunächst nach dem Kriterium, ob man ein ähnliches Tempo geht. Später stellt man dann fest, dass es auch sehr nette Menschen sind.

Ich hatte mich innerlich sehr auf das Foto an der Pont de l’Iroise, der bekannten Brücke über die Bucht von Brest, konzentriert. Man stellt sich die Situation vor, die man erreichen will und dann fällt das Treten schon viel leichter. Es ist eine Art mentales Training.

Nach 615 Kilometern war ich dann am magischen Ort meines Sommers. Das Schöne: die tief stehende Sonne tauchte Bucht und Brücke in goldenes Licht. Das Schreckliche: Es war inzwischen 19.30 Uhr. Ich war drei Stunden hinter meinem Zeitplan.

Seit 2018 fahre ich Rennrad, 2019 habe ich die Mecklenburger Seen Runde absolviert, dann die Große Weserrunde, später die Vätternrunde. Zum Brevetfahren hat mich ein wenig mein Jugendfreund Simon inspiriert. Ich sah bei Facebook seine langen Touren und wollte herausfinden, was es damit auf sich hat.

2022 fuhr ich zum ersten Mal einen 400er, in diesem Jahr die für die Qualifikation erforderlichen Brevets über 200, 300, 400 und 600 Kilometern – drei davon mit ARA Schleswig-Holstein, einmal von Hamburg aus. Irgendwie ging das, man kam in einen Flow.

Das ganze Jahr war ein großes Trainingspensum abzuspulen, 9000 Kilometer bis August. Möglich auch dank „meiner“ Vereine RV Altona  und Club TdC. Die Workouts für die Rolle im Winter kamen von Mario Kummer.

Jetzt lag eine lange Nacht vor mir. Da ich eher ein stärkerer Fahrer mit größerem Pausenbedürfnis bin, saugte ich mich an den Hügeln immer wieder an der Kette der roten Lichter hinauf. An den Kontrollen bzw. Verpflegungsstationen starteten die anderen dann wieder vor mir und das Spiel wiederholte sich.

Am nächsten Morgen war ich dann um 7.38 Uhr bei KM 782 in Loudeac – gerade mal 21 Minuten vor Kontrollschluss. Dann kam die Hitze. Im gefühlten Zeitlupentempo hatte ich mich nach Fougeres vorgearbeitet – bis Kilometer 928. Jetzt noch 300 Kilometer weiter ins Ziel zu fahren, schien mir nicht unmöglich, aber am nächsten Morgen um 7.06 Uhr in Mortagne-au-Perche zu sein schon. Es wären 177 Kilometer und 1671 Höhenmeter, eigentlich eine gepflegte Tagestour, aber ich war total übermüdet, es war drückend heiß und ich war langsam, viel zu langsam. Ich war aus meinem Zeitplan gefallen. Ich hatte das Gefühl in Watte zu treten. Bei den Pedalen kam überhaupt nix mehr an.

Da traf ich Martin, mit dem ich das 300er Qualifikations-Brevet zusammen gefahren war. Er schlug vor sich zusammenzutun. Aber am zweiten Hügel musste ich ihn ziehen lassen. Ich hangelte mich jetzt von Dorf zu Dorf. Die Franzosen hatten für die Radfahrer überall kleine Stationen aufgebaut – mit Wasser, Cola, frisch aufgeschnitten Orangenspalten. Ein Junge überredete mich zu einer Portion Grießbrei. Das war ein schöner Kindheitsgeschmack. Das war wieder ein Bild, genauer Geschmack, auf den ich mein Inneres einstellen konnte.

Die Sonne ging endlich unter, jetzt wurde es kühler, plötzlich hatte ich das Gefühl, wieder vorwärtszukommen. Eigentlich wollte ich zwischendurch drei Stunden in einem vorgebuchten Pensionszimmer schlafen. Das musste ich stornieren. Stattdessen schlief ich in Vil-Laines-la-Juhel 45 Minuten auf zwei zusammengestellten Bierbänken. Dann etwas kaltes Wasser ins Gesicht und wieder los. Um 5.46 Uhr war ich am Zwischenziel. Die Orangenlimonade schmeckte wie Champagner. Ich war wieder im Spiel.

Nach einer halben Stunde Powernap auf dem Parkett hinter den Kontrolldamen fuhr ich wieder los. Die letzten zwei Stunden fing es dann noch an zu regnen. Aber dann nahm ich mir vor, nun nicht rumzutrödeln, sondern mit einer Gesamtzeit von höchstens 82 Stunden ins Ziel zu kommen. Bei der elektronischen Schaltung war der Akku nun fast leer. Ohne meine geliebten dicken Gänge pedalierte ich die letzten Kilometer runter. Am Ende konnte ich sogar lächeln, als mich meine Frau bei der Einfahrt begrüßte. In den letzten Stunden hatte ich mich auf das Bild konzentriert, wie ich durch den weiß-roten Zielbogen fahre.

Am_Ziel

Unterm Strich: Ausrüstung (Cervelo Caledonia, Shimano 105 Di2, Zipp-Carbon-Laufradsatz 303 Firecrest, Continental Grand Prix 5000 tubeless in 30er Breite) und Vorbereitung waren gut, entscheidend in der Krise war der Kopf: die Ruhe bewahren, sich auf das nächste Stückchen konzentrieren und an die gekühlte Flasche alkoholfreies Weizen in der Ferienwohnung denken. Geholfen hat auch der aufmunternde Signal-Liveticker im Chat mit meiner Freund:innen vom RV Altona. (Aber auch darin steckt ein psychologischer Trick. Durch die Bekanntgabe meiner Teilnahme und des Tracking-Links, wusste ich immer, dass ein paar Augen auf mich gerichtet waren.)

Warum fährt man nun also 1200 Kilometer Rad in 82 Stunden? Meine Antwort, hier getippt mit noch etwas tauben Fingern: weil man es kann.